Catcalling - globales Thema, Marburger Initiative
„Boah, du hast son‘ richtig geilen Blasemund.“ Mit dieser Aussage belästigte ein Mann vor dem neuen Sudhaus am Steinweg in den Wochen vor den Schließungen eine Frau. Jetzt stehen seine Worte genau dort auf der Straße, wo er sich herausnahm, sie zu sagen.
Elisa, Helena, Marie, Victoria und Wenke haben sie dort angekreidet – im wahrsten Sinne des Wortes. Das Zitat wurde außerdem mit dem Hashtag #stopptbelästigung und einer gemalten Katze versehen. Sie ist das Markenzeichen der weltweiten Bewegung „Catcalls of …“, der sich die jungen Marburger Aktivistinnen angeschlossen haben. Ihren Ursprung findet sie in New York.
Belästigungen „ankreiden“
Bereits im März 2016 rief Sophie Sandberg dort die Bewegung „Catcalls of NYC“ ins Leben. Sie sammelte Textnachrichten von Frauen, die auf der Straße sexuell belästigt wurden, schrieb sie mit bunter Kreide an die Orte des Geschehens und lud sie auf der Social Media-Plattform Instagram hoch, um so das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Straßenbelästigungen zu schärfen. Nach ihrem Vorbild fanden sich weltweit Ableger der Idee, die in ihren Städten „Catcalls of …“-Seiten erstellten und selbst Nachrichten sammelten, um sie anzukreiden. Mittlerweile gibt es mehrere hundert Accounts auf der ganzen Welt, welche sich in der Bewegung engagieren, die sich "Chalk Back" nennt.
So auch die Marburger Aktivistinnengruppe. Nachdem zwei Mitglieder letzten Sommer aus einem Taxi heraus von mehreren Männern sexuell belästigt wurden, entschlossen sie sich selbst auf das Thema aufmerksam zu machen: „Aus Wut über die Hilflosigkeit, welcher die meisten Opfer in einer solchen übergriffigen Situation gegenüberstehen, haben wir einen Weg gesucht, uns gegen diese Art der Belästigung zu wehren.“ So entstand schließlich der Instagram-Account @catcallsofmarburg, der sich seit September 2020 für alle Opfer von Catcalling in Marburg einsetzt. Mittlerweile verfolgen auf Instagram über 1000 Nutzer:innen ihr Engagement.
„Catcalling ist kein Kompliment, sondern sexuelle Belästigung“
Die Bezeichnung „Catcalling“ hat sich vor allem in den (Sozialen) Medien etabliert. Das Wort, das sich zunächst einmal ganz lustig anhört und mit dem Haustier Katze assoziiert wird, beschreibt nichts Anderes als verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum. „Dazu gehören unerwünschte, unhöfliche, abwertende und herabwürdigende Äußerungen oder sexualisierende, sexistische Kommentare.“, erklären die Initiatorinnen von @catcallsofmarburg. Aber auch Anstarren, Gestiken oder Hupen von meist unbekannten Menschen lassen sich unter dem Begriff „Catcalling“ zusammenfassen. Im Deutschen lässt es sich etwa mit „Katzen-Rufen“ oder „Katzengeschrei“ übersetzen.
Für die Aktivistinnen ist ganz klar: „Catcalling ist kein Kompliment, sondern sexuelle Belästigung, die dazu führt, dass sich betroffene Personen im öffentlichen Raum nicht sicher fühlen.“ Denn Kommentare dieser Art haben nichts mit ehrlichem Interesse, Wertschätzung oder Respekt zu tun, sondern werden von Tätern teilweise schon als routiniertes Mittel genutzt, um das eigene Machtempfinden zu stärken. Diese Prozesse laufen häufig unbewusst ab und sind ein Produkt schlechter Sozialisation.
@Catcallsofmarburg möchte dafür sorgen, dass das Thema ernst genommen wird und Frauen sowie auch Männer und Menschen außerhalb des binären Geschlechterspektrums nicht weiterhin belächelt werden, wenn sie von ihren Erfahrungen mit verbaler sexueller Belästigung berichten. „Unser Ziel ist es, die sexuelle Belästigung für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen, um mehr Menschen für die Alltäglichkeit des Problems zu sensibilisieren.“ Die Aktivistinnen erhoffen sich auch, dass durch ihre Arbeit sexualisierte Belästigung tatsächlich abnimmt. Sie sind sich aber bewusst darüber, dass dafür ein generelles gesellschaftliches Umdenken stattfinden muss.
Ein angekreideter Catcall vor dem Oberstadtaufzug. Foto: @catcallsofmarburg
Auf Catcalling reagieren: „Es gibt kein richtig oder falsch!“
Zudem soll das Ankreiden der Catcalls den Betroffenen ihre Stimme zurückgeben. „Die meisten Betroffenen sind laut eigener Erfahrung sowie Berichten in der spezifischen Situation oft zu geschockt, verängstigt oder überfordert, um überhaupt zu reagieren.“, so das @catcallsofmarburg-Team. „Das ist völlig in Ordnung und niemand sollte sich schuldig fühlen, weil sie/er nicht ‚angemessen‘ reagiert hat.“ Denn es gibt schlichtweg kein „richtiges oder „falsches“ Reagieren auf Catcalling und Schuld am Geschehen trägt einzig und allein der Täter. „Wir haben auch schon Geschichten bekommen, bei denen der Täter angesprochen wurde und die betroffene Person daraufhin nicht ernst genommen wurde. Es ist also nicht davon auszugehen, dass bloßes Ansprechen die Täter-Mentalität verändert.“, wissen die Aktivistinnen aus den Nachrichten, die sie erhalten. Wöchentlich wenden sich durchschnittlich zwei Personen via Instagram an sie. „Wir helfen den Betroffenen sich zu wehren, wenn auch erst im Nachhinein.“
Zeug:innen von Catcalling rät die Aktivistinnengruppe nicht wegzuschauen und es zu ignorieren. „Das Reagieren auf Catcalls hat immer die Signalwirkung an die Täter: ‚Das ist nicht in Ordnung.‘ Das halten wir für zentral. Wie genau man nun reagiert, ist dabei situationsabhängig.“ Man könne sich einerseits versichern, dass es der/dem Betroffenen gut geht und so Beistand leisten. Andererseits sei es möglich, auf die Täter:innen zuzugehen und sachlich und deeskalierend zu vermitteln, dass das Verhalten inakzeptabel ist. Wird die betroffene Person sichtlich bedrängt, ist primär zu raten, sich um diese zu kümmern und diese aus der Situation zu befreien.
Warum ist Catcalling noch nicht strafbar?
In Deutschland ist Catcalling aktuell keine Straftat. Denn als nicht körperliche sexuelle Belästigung ist es nicht als Delikt gegen die sexuelle Selbstbestimmung strafbar und wird auch nicht außerhalb des Strafrechts rechtlich sanktioniert. Dabei fühlen sich viele Betroffene in ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt. Auch als Beleidigung ist Catcalling lediglich in Ausnahmefällen strafbar. Nämlich nur, wenn im Zusammenhang mit der Vornahme sexuell motivierter Äußerungen ein Angriff auf die Ehre vorliegt. Dazu führte der Bundesgerichtshof 2017 in einem Beschluss aus, dass „allein die sexuelle Motivation des Täters, mit der er den Betroffenen unerwünscht und gegebenenfalls in einer ungehörigen, das Schamgefühl betreffenden Weise konfrontiert, […] für die erforderliche, die Strafbarkeit begründende, herabsetzende Bewertung des Opfers nicht [genügt].“
Das Team von @catcallsofmarburg hofft, dass sich das bald ändert: „Gesetze spiegeln die Normen und Werte einer Gesellschaft wider. Eine Strafbarkeit von Catcalling würde das Signal senden, dass wir in Deutschland sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum nicht tolerieren.“
In Deutschland wurde letztes Jahr eine Petition gestartet, die daran appelliert diese Gesetzeslücke zu schließen. Auch der Deutsche Juristinnenbund (djb) hat nun in einem policy paper Vorschläge für eine rechtliche Regulierung von Catcalling gemacht. „Andere Länder wie Frankreich haben bereits eine juristische Lösung für das Thema gefunden“, führen die Marburger Aktivistinnen an. Dort wird Catcalling als Ordnungswidrigkeit gehandhabt, die mit einem Bußgeld belegt wird. Das wäre hilfreich um Catcalling figurativ einen Platz im Gesetz zu schaffen und Betroffenen eine echte Gegenwehr zu ermöglichen. Das deutsche Kriminalstrafrecht hingegen sei für solche Vergehen aus mehreren Gründen nicht vorgesehen und zudem missbrauchsanfällig, führt Rechtsanwältin Dr. Alexandra Windsberger in einem Gastbeitrag auf „Legal Tribune Online“ aus.
Eins haben die Petition, das policy paper sowie die Arbeit von @catcallsofmarburg, sowie alle weiteren „Catcalls of …“ Seiten gemeinsam: Sie schaffen ein Bewusstsein für das Problem! Und das ist der erste wichtige Schritt.
Denn, wenn Probleme im Bewusstsein der Gesellschaft sind, werden dafür Lösungen gefunden. So beispielsweise beim Marburger Jägertunnel am Hauptbahnhof.
Marburger Jägertunnel: Sicherheit auf Knopfdruck
Nicht immer bleibt es bei verbaler Belästigung. Es gibt auch in Marburg Ecken, die so schlecht einsehbar sind, dass sie für Frauen Angst-Räume vor (körperlichen) Übergriffen darstellen. Lange Zeit zählte der Jägertunnel in der Nordstadt zu diesen Ecken dazu. Als Verbindung zwischen Neuer und Alter Kasseler Straße unter den Bahngleisen durch ist er für Fußgehende und Radfahrer:innen eine zentrale Abkürzung auf dem Weg zwischen der Innenstadt auf der einen, und den Stadtteilen Waldtal sowie Ortenberg auf der anderen Seite. Bis zum August 2018 jedoch auch eine Abkürzung, für die viele Menschen, insbesondere Frauen, großes Unbehagen in Kauf nehmen mussten. Knapp 2 Minuten dauert der Fußweg durch den 80 Meter langen dunklen Tunnel. Klar, dass man hier nachts Angst bekommt – erst recht, wenn man alleine ist.
Der Jägertunnel in der Nordstadt: Hier möchte man ungern nachts alleine sein. Foto: Nadja Schwarzwäller i.A.d. Stadt Marburg.
Nachdem der Tunnel dann im Herbst 2016 zum Tatort eines Missbrauchs und Raubüberfalls an einer Studentin wurde und im Frühling 2017 eine weitere Frau dort auf einen Exhibitionisten traf, stand für die Universitätsstadt Marburg fest: Hier muss gehandelt werden.
Ein Schutzengel namens „LiSA“
Die Idee: Videoüberwachung bei Bedarf. Zehn verschiedene Fachdienste der Stadtverwaltung wirkten bei der Umsetzung des Überwachungssystems mit, dass sich „LiSA“ nennt. Die Kurzform steht für Livebild- und Sprechverbindung auf Abruf.
Passant:innen können bei Unbehagen einen der sieben Knöpfe drücken, die auf der Bürgersteigseite des Tunnels in regelmäßigen Abständen angebracht sind. Daraufhin schalten sich „LiSAs“ Überwachungskameras ein. Bild und Ton werden in die ständig besetzte Einsatzzentrale der Marburger Feuerwehr übertragen. Eine Gegensprechanlage ermöglicht neben der Beobachtung auch die Kommunikation mit der Person am anderen Ende der Leitung. Im Notfall kann der/die Diensthabende in der Einsatzzentrale Polizei und/oder Rettungsdienst alarmieren.
Eine leuchtende Anzeigetafel am Tunneleingang signalisiert weiteren Passant:innen, dass „LiSA“ gerade aktiviert ist, sodass das Recht auf informelle Selbstbestimmung gewahrt bleibt.
Standardmäßig dauert eine Übertragung drei Minuten. Zusätzlich speichert das System die Minute vor dem Knopfdruck ab. Somit macht auch die Betätigung des Knopfes nach einer Straftat Sinn, da so eventuell Beweismaterial gespeichert werden kann. Nach einer sicheren Durchquerung des Jägertunnels mit „LiSAs“ Hilfe werden die Daten nach 48 Stunden gelöscht. Wird kein Knopf gedrückt, so speichert „LiSA“ weder Bild noch Ton. Lediglich der Stand-by Modus zum Schutz der Anlage vor Vandalismus ist durchgehend aktiv.
Das Überwachungssystem "LiSA" sorgt für ein sichereres Gefühl. Foto: Nadja Schwarzwäller i.A.d. Stadt Marburg.
Präventive Wirkung: Für ein sichereres Marburg
Seit der Einführung des neuen Überwachungssystems gab es weder Angriffe noch Belästigungen im Bereich des Jägertunnels. „LiSA“ wirkt präventiv, indem sie potentielle Täter:innen abgeschreckt und im Ernstfall schnell für Hilfe vor Ort sorgt. Die Aktivierung bei Bedarf tut einerseits dem Datenschutz genüge und andererseits wird das Geschehen im Fall einer unsicheren Situation durch die Feuerwehrleute aufmerksamer verfolgt, als bei einer 24-Stunden-Überwachung.
Regelmäßige Kontrollen des Systems seitens der Universitätsstadt sind Routine. „Zum Konzept unserer Präventionsarbeit im Jägertunnel gehört, dass wir die Wirkung der Video- und Sprechverbindung regelmäßig überprüfen.“, erzählt Johannes Maaser, der im Fachdienst 32 Gefahrenabwehr für den Bereich Prävention zuständig ist und maßgeblich an der Entstehung des Konzepts beteiligt war. Die zündende Idee stammte damals von Regina Lang, der Leiterin des städtischen Fachbereichs Öffentliche Sicherheit und Ordnung.
Umfragen der Stadt und Universität zeigen: „LiSA“ macht ihren Job gut. „Letztmalig haben wir im Januar 2020 84 repräsentativ ausgewählte Nutzerinnen und Nutzer befragt: Die Auswertung zeigt, dass besonders die Sprechverbindung das Sicherheitsgefühl deutlich erhöht. Vor allem gilt das für Frauen und ältere Befragte.“, so Maaser.
Sexuelle Belästigung und Übergriffe minimieren und Marburg zu einem sichereren Ort für alle machen: So lautet das Ziel, welches sowohl Stadtverwaltung als auch die Aktivistinnengruppe „Catcalls of Marburg“ mit ihrer Arbeit verfolgen.
Abschließend bleibt zu hoffen, dass wir uns in einigen Jahren rückblickend wundern werden, welche Aktionen in den 2010er und 2020er Jahren noch notwendig waren, um Übergriffe, Diskriminierung und Belästigung zu verhindern. In Marburg zumindest arbeiten Zivilgesellschaft und Stadtverwaltung engagiert gemeinsam an einer gewaltfreien Zukunft. Marburg bleibt dran.
Links:
Hier kommt ihr zur Instagramseite @catcallsofmarburg.
Die offizielle Website des Gründerprojekts „Catcalls of New York“ findet ihr hier.
Hier findet ihr weitere Informationen zum Überwachungssystem LiSA im Jägertunnel.
Das Gleichberechtigungsreferat bietet eine umfassende Beratung, für Opfer von sexueller Belästigung. Hier kommt ihr zur Übersicht.